[1988:] Der Mythos vom
Teufelsdingo [entstanden aus einer Auseinandersetzung zwischen
verschiedenen Totems, lebend in einer Höhle des Uluru/Ayers
Rock] scheint in unserer Zeit einen eigentümlichen Nachhall
gefunden zu haben, und zwar im Fall von Mrs. Lindy Chamberlain. Mrs.
Chamberlain, die Frau eines Adventisten-Geistlichen, besuchte mit
ihrem Mann und drei Kindern, darunter auch dem Baby Azaria, im
August 1980 den Ayers Rock. Azaria auf dem Arm, ging sie in die
Höhle der Mutter Bulari und stand dort einem Dingo gegenüber,
von dem sie später sagte: "Er schien einen Anspruch auf
das Baby zu haben." In jener Nacht, so erzählten die
Chamberlains ihren Nachbarn auf dem Campingplatz an der Ostseite des
Berges, sei ein Dingo in das Nylonzelt der Familie eingedrungen, in
dem Azaria und ihr jüngerer Bruder schliefen, und mit dem Baby
zwischen den Zähnen wieder herausgelaufen. Als Lindy
Chamberlain schrie, sei er in den Sandhügeln hinter dem Zelt
verschwunden.
Im folgenden Jahr waren die
Chamberlains Gegenstand internationaler Sympathien, aber auch eines
hartnäckigen Verdachts. Von der Presse wurde das bösartige
Gerücht lanciert, daß der Name Azaria "Opfer in der
Wüste" bedeute und daß die Chamberlains, von
alttestamentarischem Fanatismus getrieben, ihre Tochter im Herzen
der australischen Wildnis geopfert und die Tat auf den Dingo
geschoben hätten. Doch in einem vom Fernsehen übertragenen
Urteil machte der Untersuchungsrichter von Alice Springs diesen
ungeheuerlichen Vermutungen ein Ende. Sein Urteil lautete, daß
Azaria von einem Dingo getötet und ihre Leiche vermutlich von
einem europäischen Dingo-Liebhaber gefunden worden war, der das
Kind begrub und die Kleider an einen Ort legte, wo man sie leicht
finden konnte, und der die Suchtrupps in eine falsche Richtung
lockte, so daß man die Suche nach den Überresten des
Kindes abbrechen würde.
Ein Jahr nach dem Verschwinden von
Azaria wurde der Wagen Pastor Chamberlains von der Polizei
beschlagnahmt - unter anderem aufgrund neuer gerichtsmedizinischer
Befunde eines Engländers, der die Kleider aus der Bulari-Höhle
untersucht hatte. Die Polizei des Nordterritoriums untersuchte den
Wagen und entdeckte eine Menge Blut hinter den Türverkleidungen.
In Alice Springs wurde eine zweite Untersuchung anberaumt und Lindy
Chamberlain des Mordes an ihrer Tochter Azaria angeklagt. Ihr Mann
wurde der Beihilfe nach erfolgter Tat beschuldigt. Weil man in Alice
Springs einen fairen Prozeß für unmöglich hielt,
verlegte man ihn in die tropische Hauptstadt Darwin. Die Version der
Anklage lautete, daß Lindy Chamberlain die Kehle ihrer Tochter
auf dem Vordersitz des Familienautos durchschnitten und die
Geschichte mit dem Dingo erfunden habe. Das Baby habe die ganze Zeit
tot in der Limousine gelegen, während der Suchtrupp mit 300
Leuten die Sandhügel durchkämmte. Weiter behauptete die
Anklage, daß die Chamberlains Azarias Leiche später in
der Nacht begraben hätten. Dann hätten sie einige ihrer
blutgetränkten Kleider mit Scheren zugerichtet, um die Spuren
von Dingozähnen vorzutäuschen.
Im November 1982 befand man Lindy
Chamberlain des Kindsmords an ihrer Tochter für schuldig und
verurteilte sie zu lebenslanger Freiheitsstrafe. 1986 wurde sie nach
einem Berufungsverfahren freigelassen. Das merkwürdige
Verschwinden Azarias gibt aber immer noch Rätsel auf.
(Keneally, Merian Australien 118)