Susannes Folksong-Notizen
[1998:] Auch die Verheerung, die Fernsehen und Video unter Kindern anrichten, ist über Jahre bagatellisiert worden. So wie der Kinderpsychologe Bruno Bettelheim vor 20 Jahren propagierte, "Kinder brauchen Märchen", und zwar grausame, um ihre bösen Phantasien abreagieren zu können, so sollte es auch in der digitalen Welt sein. Aggressionsabfuhr, das war die modische These, sei die erleichternde Wirkung der Bildschirmgewalt bei Kindern. Daß das irgendwie nicht stimmen kann, wurde der bestürzten Fachwelt abschließend deutlich, als 1996 im niederbayerischen Krennerhäuser bei Passau der 13jährige Christian ausrastete. Der Junge stülpte sich eine selbstgemachte Maske auf, ein löchriges Ding mit Sehschlitzen für die Augen. Damit sah er fast so furchteinflößend aus wie sein großer Held, der Killer-Zombie Jason. Den kannte Christian von Videos. Christians Onkel versorgte den Buben, seit er neun Jahre alt war, mit den Mordorgien jener Bestie, die im Blutrausch Menschen zerstückelt.
Bewaffnet mit einem Buschmesser und einer Axt, rannte er hinüber ins Haus der zehnjährigen Cousine. Dort traf er überraschend auf eine alte Dame aus der Nachbarschaft. Aus Angst, enttarnt und lächerlich gemacht zu werden, stach er sie nieder. Dann stürzte er sich auf das schreiende Mädchen und schlug ihr zweimal die Axt in den Kopf. Gleich darauf lief er zu seinen Eltern, stotterte herum, dann brach es aus ihm heraus: "Ich hab' der Sabine aufi g'haut." Die beiden Opfer kamen mit dem Leben davon, aber das Mädchen wird nie wieder ganz gesund. Die Dorfgemeinschaft forderte Christians Eltern auf, wegzuziehen. Sie leben jetzt in einer größeren Stadt.
Die geistige und moralische Entwicklung des Jungen sei "grundsätzlich altersgemäß" verlaufen, urteilte die Jugendkammer am Landgericht Passau. Daß Christian sich "in übersteigerter Form" in die Rolle einer Filmfigur hineingelebt hatte, stehe "dazu in keinem Widerspruch". Aufgrund des "suchtartigen Konsums von gewaltdarstellenden Horrorvideos" diagnostizierte der Gutachter jedoch eine "Fehlentwicklung der Persönlichkeit". "Die Steuerungsfähigkeit des Angeklagten" bewertete das Gericht als "erheblich vermindert". Das Urteil: zwei Jahre auf Bewährung, Heim und Therapie.
Kettensägenmonster als Vorbild: Das Fernsehen, sagt der [...] Kommunikationswissenschaftler Jo Groebel, habe die Welt auf den Kopf gestellt: "Während es in der Vergangenheit für Schauspieler die Devise gab, der Wirklichkeit möglichst nahezukommen, bemüht man sich jetzt, in der Realität den Filmfiguren nahezukommen." (Thomas Darnstädt, Spiegel, 6. April)
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